Ich steh‘ auf hohem Balkone am Thurm,
Umstrichen vom schreienden Staare,
Und laß‘ gleich einer Mänade den Sturm
Mir wühlen im flatternden Haare;
O wilder Geselle, o toller Fant,
Ich möchte dich kräftig umschlingen,
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand
Auf Tod und Leben dann ringen!
(Strophe 1 des Gedichts Am Thurme, entstanden 1841/42)
„Meine Lieder werden leben“ – Leben und Werk im Zeitraffer
Als Annette von Droste-Hülshoff vor über 160 Jahren starb, war ihr Werk so gut wie unbekannt. Zweifellos ist die Frau, die den bis 2001 gültigen 20-DM-Schein zierte, heute ungleich populärer als zum Zeitpunkt ihres Todes. Ihre „Entdeckung” hat die Autorin dem Umstand zu verdanken, dass man sie im Kulturkampf der 1870er Jahre zur Galionsfigur stilisierte und sie kurzerhand, versehen mit den Attributen „katholisch” und „westfälisch”, zur „größten deutschen Dichterin” erklärte.
Geboren wurde Annette von Droste-Hülshoff am 10. Januar 1797 auf dem Wasserschloss Hülshoff zwischen den Orten Havixbeck und Roxel bei Münster. Wohlbehütet erzogen in der Abgeschlossenheit der westfälischen Adelswelt, begann sie früh zu schreiben, zunächst noch ganz im Sinne biedermeierlicher Familienkultur. Nur selten hatte Droste Gelegenheit, den engen Grenzen des Elternhauses zu entfliehen. Einige Male besuchte sie Bökendorf im Paderborner Land, wo die Familie ihrer Mutter ihren Wohnsitz hatte. 1820 war der Bökerhof Schauplatz ihrer Beziehung zu dem Göttinger Jurastudenten Heinrich Straube. Das durch eine Intrige herbeigeführte Scheitern der Verbindung wurde für die 23-Jährige zu einem mit vielerlei Demütigung verbundenen traumatischen Erlebnis.
In dieser Zeit hatte sie begonnen, einen Zyklus von geistlichen Liedern auf die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres zu verfassen. Vor dem Hintergrund der existentiellen Erschütterungen gerieten ihre Texte zum persönlichen Bekenntnis, das die Spuren eines vielfach gepreßten und getheilten Gemüthes trug. Erst zwanzig Jahre später konnte sie das Geistliche Jahr vollenden.
Nach dem Tod des Vaters 1826 zog Annette von Droste mit Mutter und Schwester auf den Wohnsitz Haus Rüschhaus nahe Münster, eine Mischung aus Bauernhaus und Herrensitz, erbaut von dem berühmten westfälischen Barockbaumeister Johann Conrad Schlaun. Für einige Zeit verlegte sie sich auf ihr zweites Talent, die Musik. In den dreißiger Jahren erweiterte sie allmählich ihren Gesichtskreis, insbesondere durch Reisen nach Köln und Bonn sowie in die Schweiz. In literarischer Hinsicht beschäftigte sie sich mit der Abfassung von Versepen, die einerseits formal wie inhaltlich dem Zeitgeschmack verpflichtet waren, andererseits ein eigenes, originelles Erzählen dokumentieren, das die üblichen Genregrenzen überschreitet. Mit dem Erscheinen der Gedichtausgabe von 1838, die weitgehend unbeachtet blieb, schließt sich die erste größere Schaffensphase.
Auch ihre Novelle Die Judenbuche (1842) brachte Droste in der literarischen Öffentlichkeit zunächst wenig Gehör. Mit der Geschichte des Friedrich Mergel, der viele Jahre nach dem Mord an einem Juden am Ort der Tat in einer Buche erhängt aufgefunden wird, war ihr ein „Sittengemälde” gelungen, das mit fast naturalistischer Detailschärfe einen Ausschnitt westfälischer Lebenswelt spiegelt. Doch Die Judenbuche ist mehr als eine Milieustudie; sie ist gleichzeitig Kriminalgeschichte und Psychogramm, eine Erzählung, die durch Ambivalenz und Mehrdeutigkeit letztlich die Wahrnehmung von Wirklichkeit grundsätzlich in Frage stellt.
Eine Phase höchster poetischer Inspiration erlebte die Autorin im Winter 1841/42, den sie zu Besuch bei ihrer Schwester Jenny von Laßberg auf der Meersburg am Bodensee verbrachte. Angespornt durch ihren „Seelenfreund” Levin Schücking, gelang es ihr, fast täglich ein neues Gedicht zu verfassen. Es entstand damals der Grundstock ihrer zweiten Gedichtsammlung, die 1844 erschien und viele ihrer bekannten Texte enthält, so Das Spiegelbild, Am Thurme oder die heimatbezogenen Haidebilder mit ihrer Einsicht in die Doppelbödigkeit der Natur.
Schücking blieb auch später Anreger neuer literarischer Texte, doch gelang es Droste aufgrund beständiger Krankheiten immer seltener, ihren Pegasus zu satteln. Ihre literarische Stimme begann zu versiegen. Ein letztes Mal reiste sie im Herbst 1846 an den Bodensee. Hier starb sie am 24. Mai 1848.
Der heutige Ruhm Annette von Droste-Hülshoffs gründet sich insbesondere auf Die Judenbuche sowie ihre Naturlyrik – Texte, mit denen sie weit über ihre Zeit hinausweist. Ihr dichterisches Selbstverständnis hat die Autorin einmal so formuliert: Ich mag und will jetzt nicht berühmt werden, aber nach hundert Jahren möcht ich gelesen werden. Dies hat sie zweifellos erreicht.
Brief an August von Haxthausen / Annette von Droste-Hülshoff
Universitäts- und Landesbibliothek Münster, S. Droste-Hülshoff 1,008